Johann Gottfried Herder, Von deutscher Art und Kunst

Herder uses Skaldic poetry as an example of poetry that comes spontaneously from nature rather than by means of art or education. He praises the lively, self-assured beauty of this more ancient poetry, and contrasts it with what he views as the contemporary deterioration of German poetry.

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Author:
Herder, Johann Gottfried
Date Written:
 
Language:
German
Publication Title:
Von deutscher Art und Kunst
Article Title:
 
Page Numbers:
29-31
Additional Info:
Ed. H. Lambel
Publisher:
Ben Bode
Place of Publication:
Hamburg
Date Published:
1773

Text:

[29] Habe ich denn je meine skaldische Gedichte in Allem für Muster neuerer Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger! sie mögen so einförmig, so trocken seyn: andre Nationen sie so sehr übertreffen: sie mögen für Nichts als Gesänge, nordischer Meistersänger oder Improvisatori gelten; was ich mit ihnen beweisen will, beweisen sie. Der Geist, der sie erfüllet, die rohe, einfältige, aber grosse, zaubermäßige, feyerliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes so starkgesagte Wort macht, und der freye Wurf, mit dem der Eindruck gemacht wird — nur das wollte ich bey den alten Völkern, nicht als Seltenheit, als Muster, sondern als Natur anführen, und darüber also lassen Sie mich reden.

Sie wissen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden ausdrükken. Immer die Sache, die sie sagen wollen, sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand (von dem sie in keinem Worte ihrer Sprache, da sie fast keine abstracta haben, wissen) durch alle dies nicht zerstreuet: noch minder durch Künsteleyen, sklavische Erwartungen, furchtsamschleichende Politik, und verwirrende Prämeditation verdorben — über alle diese Schwächungen des Geistes seligunwissend, erfassen sie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie schweigen entweder, oder reden im Moment des Interesse mit einer unvorbedachten Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierte Europäer allezeit haben bewundern müssen, und — müssen [30] bleiben lassen. Unsre Pedanten, die alles vorher zusammenstoppeln, und auswendig lernen müssen, um alsdenn recht methodisch zu stammeln; unsre Schulmeister, Küster, Halbgelehrte: Apotheker, und alle, die den Gelehrten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten, als daß sie endlich, wie Shakespear’s Lancelots, Policendiener, und Todtengräber uneigen, unbestimmt, und wie in der letzten Todesverwirrung sprechen — diese gelehrte Leute, was wären die gegen die Wilden? — Wer noch bey uns Spuren von dieser Festigkeit finden will, der suche sie ja nicht bey solchen; — unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverstande, mehr durch Thätigkeit, als Spekulation gebildet, die sind, wenn das, was ich anführete, Beredsamkeit ist, alsdenn die Einzigen und besten Redner unsrer Zeit.

In der alten Zeit aber waren es Dichter, Skalden, Gelehrte, die eben diese Sicherheit und Festigkeit des Ausdrucks am meisten mit Würde, mit Wohlklang, mit Schönheit zu paaren wußten; und da sie also Seele und Mund in den festen Bund gebracht hatten, sich einander nicht zu verwirren, sondern zu unterstützen, beyzuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke von αοιδοισ, Sängern, Barden, Minstrels, wie die größten Dichter der ältesten Zeiten waren. Homers Rhapsodien und Ossians Lieder waren gleichsam impromptus, weil man damals noch von Nichts als impromptus der Rede wußte: dem letztern sind die Minstrels, wiewohl so schwach und entfernt, gefolgt; indessen doch gefolgt, bis endlich die Kunst kam und die Natur auslöschte. In fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten von Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fühlen gibt: nach Regeln zu arbeiten, deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über Gegenstände zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger sinnen, noch weniger imaginieren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen — und endlich wurde Alles Falschheit, Schwäche, und Künsteley. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret, und verlohr Festigkeit des Auges, und der Hand, [31] Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit und Wahrheit und Andringlichkeit. — Alles ging verlohren. Die Dichtkunst, die die stürmendste, sicherste Tochter der menschlichen Seele seyn sollte, ward die ungewisseste, lahmste, wankendste: die Gedichte fein oft corrigirte Knaben, und Schulerereitien. Und freylich, wenn das der Begriff unsrer Zeit ist, so wollen wir auch in den alten Stücken immer mehr Kunst als Natur bewundern, finden also in ihnen bald zu viel, bald zu wenig, nachdem uns der Kopf steht, und selten was in ihnen singt, den Geist der Natur. Ich bin gewiß, daß Homer und Ossian, wenn sie aufleben und sich lesen, sich rühmen hören sollten, mehr als zu oft über das erstaunen würden, was ihnen gegeben und genommen, angekünstelt, und wiederum in ihnen nicht gefühlt wird.

Freylich sind unsre Seelen heut zu Tage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grüblen nur; wir dichten nicht über und in lebendiger Welt, im Sturm und im Zusammenstrom solcher Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beydes — und haben uns das schon so lange, so oft, so von früh auf erkünstelt, daß uns freylich jetzt kaum eine freye Ausbildung mehr glücken würde, denn wie kann ein Lahmer gehen? Daher also auch, daß unsern meisten neuen Gedichten, die Festigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour so oft fehlet, den nur der erste Hinwurf verleihet, und kein späteres Nachzirkeln ertheilen kann. Einem Homer und Ossian würden wir bey solchem poetischen Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als einem Raphael oder Apelles, der durch Einen Umriß sich als Apelles zeigt, der schwachhändig, krizzelde Lehrknabe.

Notes:

 

Collected by:
AE