- Performer Name:
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- Performance Date:
- Author:
- Fernow, Karl Ludwig
- Date Written:
- 1801
- Language:
- German
- Publication Title:
- Der neue Teutsche Merkur
- Article Title:
- Die Improvisatoren (Beschluß)
- Page Numbers:
- 3:90-108
- Additional Info:
- October 1801 issue
- Publisher:
- Place of Publication:
- Weimar
- Date Published:
- 1801
Text:
[90] Die Improvisatoren
(Beschluß)
Dritte Abtheilung.
Wie kommt es wohl, daß, unter allen gebildeten Nazionen Europens, der Italiener allein die Dichtkunst all’improviso besitzt? Hat die Natur ihm ein ausschließendes Talent zu derselben verliehen? oder liegt die Disposizion dazu in seiner Sprache? oder hat er den ausschließenden Besitz dieser Kunst einer besonders auf sie gerichteten Kultur zu danken? und könnten nicht [91] auch andere Nazionen, z.B. die teutsche, durch eine ähnliche Kultur ihres poetischen Talents, sich diesen Vorzug zu eigen machen? Diese Fragen liegen so nahe, daß sie sich jedem Leser längst von selbst werden aufgedrungen haben; um so mehr, da sein Nazional-Interesse dabei in Anregung kommt, welches sich sträubt, einer andern Nazion einen Vorzug zugestehn zu müssen, welche, stolz auf den Besitz desselben, der seinigen mit dem Mangel dieses Vorzugs, leicht auch die Fähigkeit ihn zu erwerben streitig machen könnte; denn wir sind gewöhnlich eifersüchtiger auf Vorzüge, welche Natur oder Zufall giebt, als auf solche, die wir durch eigenes Verdienst besitzen oder doch besitzen könnten. So gesteht der Italiener dem Teutschen gern den Vorzug einer größern Ehrlichkeit zu, wenn dieser nur die Superiorität seines Talents in der Schlauheit anerkennt. — Aber jenes Sträuben ist nicht blos Vorliebe für unsere Nazion, sondern gründet sich in dem dunkeln Bewußtseyn, daß die menschliche Natur in ihren wesentlichen Anlagen überall dieselbe ist, und daß das Talent zu den schönen Künsten und vornehmlich zur Poesie, als eine wesentliche Anlage der Menschheit, sich durch Kultur bei allen Nazionen entwickelt. Daher werden wir, wenn man z.B. unserer Nazion den Mangel an Kunstsinn oder Geschmack vorwirft, zwar diesen Mangel zugestehn, aber nur, weil es uns an Gelegenheit fehlt, die Anlagen dazu zu entwickeln; diese An- [92] lagen selbst aber werden wir uns darum nicht abstreiten lassen; und wir haben darin nicht Unrecht. Aber wenn man uns nun einräumt, daß Kunstsinn, Kunsttalent und Geschmack, als wesentliche Anlagen der Menschheit in uns, allen Nazionen gemein sind, und daß es nur günstiger äußerer Umstände bedarf, um sie bei allen zu entwickeln, so müssen wir doch bekennen, daß manche Nazionen vorzugsweise eine größere Disposition zu dieser oder jener Kunst zeigen, als andere. Dies ist besonders dann auffallend, wenn eine Kunst bei einer Nazion ausschließlich blühet, ohne durch einen besondern politischen oder religiösen Zweck, oder durch Institute absichtlich unterstützt zu werden; wenn sie gleichsam als ein natürliches Gewächs im Garten der Natur wuchert und ohne andere Pflege als den freien Trieb des Talents und das freie Interesse der Nazion an ihrem Genusse, sich durch sich selbst erhält. So blühet die extemporane Dichtkunst in Italien. Jede sich kultivirende Nazion hat ihre politische Epoche bereits gehabt, oder hat sie gegenwärtig, oder wird sie noch haben, wo Dichter und Publikum, durch ein gemeinsames freies Interesse an dieser Kunst, sich wechselseitig in demselben ermuntern und bestärken; und so lange dieses Interesse rege bleibt, erhält die Kunst sich in ihrer Blüthe. Die extemporane Dichtkunst hingegen gedeihet blos in Italien, wo sie seit dem Wiederaufleben der Kultur mehrere Jahrhunderte lang ununterbrochen fortgeblühet [93] hat. Wir müssen hieraus den Schluß ziehen, daß diese Nazion entweder mit einer besonderen Anlage zu dieser Art von Dichtkunst begünstigt sey, oder daß sonst gewisse Bedingungen in ihr liegen, welche diese Dichtart begünstigen, und welche sich bei allen übrigen kulrivirten Nazionen Europens nicht finden; denn weder der Drang des poetischen Talents, noch die dem Genie eigene Ruhmbegierde, noch der mächtige Affekt der Liebe, noch der Nachahmungstrieb, haben bis jetzt in andern Ländern Improvisatori hervorbringen können, obgleich einige derselben eben so große, vielleicht größere Dichter gehabt haben, als Italien.
Man kann der Kunst all’ improviso zu dichten eigentlich kein besonderes Talent, sondern nur eine besondere Modifikazion des allen gebildeten Nazionen gemeinsamen Dichtungstalents zum Grunde legen; und es ist nicht schwer, den Grund dieser Disposizion bei dem Italiener in seinen physischen Anlagen zu finden. Es ist eine alte Erfahrung, die sich dem ersten aus Süden nach Norden, oder aus Norden nach Süden Reisenden aufbringen mußte, daß die sinnlichen Anlagen und Kräfte im Menschen, welche zusammengenommen seinen fysischen Karakter ausmachen, unter verschiedenen Himmelsrichtungen verschiedentlich modifizirt sind; daß die Menschen im Allgemeinen mehr oder weniger reizbare Nerven, mehr oder minder geschmeidige Fibern, flüssigere oder zähere Säfte haben, — [94] und daß dem zufolge ihre Empfindung feiner oder stumpfer, ihre Einbildungskraft lebhafter oder träger, ihre Affekte feuriger oder kälter, — mit einem Worte, daß sie sinnlichen Energieen ihrer Seelenkraft stärker oder schwächer sind, je nachdem sie in einem wärmeren, gemäßigten oder kälteren Klima leben. Die Wirkungen dieser Energieen müssen also auch in demselben Verhältnisse leichter und lebhafter, oder träger und mühsamer von statten gehen. Nun ist aber das Dichtungstalent nichts anders als eine sinnliche Energie, nehmlich die durch den Enthusiasmus für eine Idee zur Darstellung derselben begeisterte Einbildungskraft. Je reizbarer die Empfindlichkeit des Gemüths ist, je leichter und glühender der Affekt der Begeisterung sich entzündet, je lebhafter und mächtiger er die Einbildungskraft in Schwung setzt, um so leichter und schneller wird auch die geübte, und mit dem Mechanismus der Darstellung vertraute Dichtkraft ihr Werk vollenden, wenn sie durch keine äußeren Hindernisse, wie z.B. das einer ungeschmeidigen Sprache, in ihrem freien Schwunge gehemmt wird.
Wir haben schon oben das wesentliche Merkmal kurz berührt, wodurch das Talent des Improvisatore sich von dem gewöhnlichen Dichtertalent unterscheidet. Es besteht in der natürlichen Disposizion des Dichters, sich leicht durch jedes, der poetischen Darstellung [95] fähige Objekt in den Zustand des Gemüths versetzen zu lassen, wo die Seele von dem, ihr in der hellesten Klarheit vorschwebenden Gegenstande ganz erfüllt, sich selbst und alles außer demselben vergisst, während der lebhafteste Enthusiasmus die Einbildungskraft und die ihr untergeordneten Kräfte des Gedächtnisses und der Darstellung in solchen Schwung setzt, daß ihre Wirkungen mit unbegreiflicher Schnelligkeit, und ohne daß sie selbst sich derselben deutlich bewusst ist, ohne alle Anstrengung des Verstandes auf der Stelle erfolgen. Der feurigste Enthusiasmus und die klarste Besonnenheit erheben und leiten die Einbildungskraft des Dichters in ihrem freiesten Schwunge. Ohne diesen Zustand poetischer Begeisterung oder Verzückung, die wir schon aus der Schilderung des Bettinelli kennen, und den der Italiener estro nennt, giebt es eben so wenig einen ächten Improvisatore, als es, ohne eine schöpferische Einbildungskraft, einen wahren Dichter giebt, und selbst dem größten derselben versagt zuweilen seine Kunst, wenn dieser Zustand sich nicht einfindet, oder wenn er ihn vor der Zeit verlässt.
Diese besondere Disposizion zur dichterischen Begeisterung in dem Grade, wie wir sie hier beschrieben haben, welche das Talent zur extemporanen Dichtkunst begründet, scheint dem Italiener mehr als den übrigen Nazionen Europens eigen zu seyn. Dadurch [96] wird jedoch keineswegs behauptet, daß diese Disposizion sich bei den letztern gar nicht finde, sondern nur, daß sie bei jenem häufiger angetroffen werde, weil die fysischen Anlagen seiner Nazion sie begünstigen, und daß darum der Italiener im Allgemeinen mehr Talent zu dieser Kunst besitze, als irgend eine andere Nazion Europens.
Behauptungen dieser Art können ihrer Natur nach immer nur hypothetisch seyn; denn darum daß eine Anlage sich nicht äußert, hat man noch keineswegs das Recht zu folgern, daß sie gar nicht vorhanden sey; oft fehlt es nur an den äußeren Bedingungen ihrer Entwicklung. Und was die vorzügliche Begünstigung des Italieners durch seine fysischen Anlagen betrifft, so lässt sich diese nur in Vergleichung desselben mit den Nazionen des nördlichen Europa behaupten; hingegen ist kein fysischer Grund vorhanden, dieselbe Begünstigung, mithin auch dieselbe Anlage den Nazionen des südlichen Europa, die mit dem Italiener unter einerlei Himmelstriche leben, z.B. dem Südfranzosen, Spanier und Portugiesen abzusprechen. Und blühte nicht wirklich diese Kunst schon früher als in Italien im südlichen Frankreich und in den nördlichen Provinzen Spaniens, von wo sie im dreizehnten Jahrhunderte zugleich mit der poetischen Kultur nach Italien hinüberwanderte*?
[97] Aber auch die glücklichste Anlage wird umsonst vorhanden seyn, wenn die Sprache, worin der Dichter seine Ideen darstellen will, nicht die in ihr üblichen poetischen Formen mit solcher Leichtigkeit annimmt, daß er mit der gehörigen mechanischen Fertigkeit, welche die Ausübung seiner Kunst erfordert, während des Dichtens die Regeln derselben ohne Schwierigkeit beobachten kann. Hier hat nun der Italiener in der seinigen die entschiedensten Vortheile; und wenn man ihm auch, aller Erfahrung zuwider, den Besitz jener Anlage in vorzüglichem Grade abstreiten wollte, so würde man ihm doch die großen Vorzüge nicht abläugnen können, welche seine Sprache nicht sowohl durch ihren Wohlklang, worauf es hier weniger ankommt, als vielmehr durch die glückliche Geschmeidigkeit, womit sie alle poetischen Formen annimmt, über alle anderen neueren Sprachen hat; und vielleicht würde man nicht zu viel wagen, wenn man behauptet, daß mit einer der Poesie so günstigen Sprache, als die Italienische ist, jede Nazion Improvisatori haben würde.
[98] Eine Sprache ist der Poesie günstig, wenn sie dem Dichter viele Freiheiten gestattet, wenn sie sich leicht in jedes Silbenmaaß fügt, und wenn der Reim in ihr so wenig Schwierigkeiten als möglich macht. Diese Vorzüge besitzt keine andere Sprache in so hohem Grade als die italienische; und sie liegen theils in dem Wesen und Bau der Sprache selbst, theils in den Regeln ihrer Versifikazion. Sie besitzt in der Wortfügung sowohl, als auch in der Veränderung, die sie durch Zusammenziehung und Verkürzung an ihren Wörtern selbst machen kann, weit mehr Freiheiten, als die teutsche Sprache, welche sonst in der Freiheit der Inversion alle anderen Sprachen übertrifft. Bei dem Versbau der italienischen Poesie wird nicht, wie im teutschen, auf die Länge und Kürze der Sylben, sondern blos auf die Zahl derselben Rücksicht genommen. Zur Bildung eines Verses ist es genug, wenn gewisse in den Regeln der italienischen Poesie bestimmte Sylben den Tonfall haben. Überdies wird der italienische Versbau noch durch die Elision erleichtert, welcher zufolge mehrere Vokalsylben für eine gezählt werden, wodurch der Vers zugleich eine schöne Mannigfaltigkeit und Fülle erhält. Endlich ist in keiner Sprache das Reimen so leicht, als in der italienischen, da in ihr alle Wörter auf Vokal-Endungen ausgehen, und die meisten Wörter den Accent auf der vorletzten oder vorvorletzten Sylbe haben, wodurch natürlich eine weit größere Menge über- [99] einstimmender Reime entsteht, als in den Sprachen, welche reich an Konsonant-Endungen sind. Diese große Leichtigkeit der Versifikation und des Reimes ist die Ursache, daß die italienische Sprache so außerordentlich reich an Gedichten von großem Umfange in ottave rime und an Sonetten ist, also gerade in zwei Versarten, welche in unserer Sprache, wegen des drei- und viermal wiederkehrenden Reimes die größten Schwierigkeiten haben. Wahrscheinlich hat es dem Dichter unserer Nazion, welcher, vor allen andern, Versbau und Reim mit der reizendsten Leichtigkeit zu behandeln weiß, mehr Zeit und Mühe gekostet, die zwölf Gesänge seines Oberon zu versifiziren, als dem Bernardo Tasso die hundert Gesänge seines Amadis; und noch weit mehr würden sie ihm gekostet haben, hätte er, wie dieser, sein Gedicht in reinen ottave rime verfertigen wollen. Und welcher teutsche Dichter würde ein Gedicht wie die secchia rapita des Tassoni in zwei Monaten verfertigen, wenn auch blos das Mechanische einer solchen Arbeit in Anschlag gebracht wird? Wenn man nun zu allen diesen Vortheilen noch den, gewiß nicht unbedeutenden Vorzug einer seit mehreren Jahrhunderten ununterbrochen fortdauernden poetischen Kultur der italienischen Sprache fügt, so lässt sich gar wohl begreifen, wie die extemporane Dichtkunst, welche in anderen Sprachen nie zu überwindende Schwierigkeiten findet, in jener so leicht ist, [100] ohne daß man nöthig hätte, zur Erklärung dieses blendenden Fänomens, ein dem Italiener ausschließend eigenes Talent zu dieser Kunst anzunehmen.
Die Zeiten sind vorüber, wo schöne Geister anderer Nazionen, auf die goldnen Zeitalter der ihrigen stolz, für unmöglich hielten, daß der Teutsche Werke des Geschmacks hervorbringen könne. Geßner und Wieland haben den Ausländern den Geschmack, — so wie Göthe und Bürger die Originalität des teutschen Dichtergenius, durch die That bewiesen, während Klopstock und Voß die großen Vorzüge, welche unsere Sprache, in der Fähigkeit die Sylbenmaaße der Alten nachzubilden vor allen neueren Sprachen besitzt, und ihre große poetische Kraft in klassischen Werken dargelegt haben; und die teutsche schöne Literatur beginnt nun denselben Ausländern achtungswürdig zu werden, welche noch vor kurzem ihre Möglichkeit bezweifelten. Aber die teutsche Sprache bleibt dessen ungeachtet, auch wenn ein Göthe und Wieland sie mit allen Grazien ihres Genie’s schmücken, nach dem eigenen Geständnisse dieser Meister in der Kunst, ein undankbarer, ungeschmeidiger Stoff, und sie ist ihrer Natur nach unfähig, sich in den Fesseln des Sylbenmaaßes und des Reimes, welche für die italienische nur leichte, gefällige Blumenketten sind, mit gleicher Leichtigkeit wie diese, zu bewegen. Man darf in Rücksicht auf Versbau und [101] Reim nur eine flüchtige Vergleichung zwischen beiden Sprachen anstellen, um überzeugt zu werden, daß Apollo selbst, wenn er auch in tönender Rüstung vom Olymp herabstiege, um in teutschen Reimversen zu improvisiren, bald an der glücklichen Ausführung dieses Unternehmens verzweifeln würde. Um die Ausübung dieser Kunst in teutscher Sprache möglich zu machen, müsste der Dichter die Fesseln des Reimes völlig abwerfen und das freieste unter allen Sylbenmaaßen wählen, dasselbe worin Griechen und Lateiner diese Kunst trieben, und worin auch die neueren Italiener zu Papst Leo’s Zeiten häufig in lateinischer Sprache improvisirten.
Wenn nun, wie wir gezeigt haben, die italienische Sprache der Boden ist, in welchem dieses Kunstgewächs vor allen andern gedeihet, so kann man die in diesem Lande herrschende, mangelhafte und verkehrte Erziehungsweise des gebildeten Theiles dieser Nazion als den Dünger betrachten, der die natürliche Güte des Bodens noch ergiebiger macht. In einem Lande, dessen Bewohner zu gebildet sind, um nicht das Bedürfniß der edleren Freuden des Geistes lebhaft zu fühlen, wo aber seit langen Jahrhunderten der freie Gebrauch der Vernunft in ihrer eigenen Angelegenheit ein Religionsverbrechen ist; wo Denkertalent und Scharfsinn nur dann ihr Glück machen, wenn sie neue Sofismen erfinden, um das künstliche [102] System der Schlüsselpolitik aufrecht zu erhalten, und die heilige Nacht des Volksaberglaubens dem Lichte der Aufklärung wo möglich für immer unzugänglich zu machen; wo also wahre wissenschaftliche Kultur, und das nothwendige Produkt derselben, wahre Aufklärung, nie gedeihen kann, weil die erste Bedingung derselben, freies Forschen und Denken über das, was vor allem das Wissenswürdigste ist, und worin alle Wissenschaften sich, wie Stralen in einen gemeinschaftlichen Brennpunkt vereinigen, nicht statt findet; — in diesem Lande ist die Poesie ein vortrefflicher Ableiter für den immer regen Trieb der Seele nach Beschäftigung; durch sie wird der Enthusiasmus der edelsten Geister, welcher unter Leitung der Vernunft, mit seiner reinen Glut die Idee der Wahrheit umfangen und bis zu ihrer Grundquelle verfolgen würde, frühe in das Zauberland der Dichtung gelockt, um in unschädlichen Aufwallungen der poetischen Begeisterung zu verlodern, welche, indem sie die Einbildungskraft in immerwährender spielender Thätigkeit erhalten, unvermerkt entnerven und in jene wollüstige Indolenz einwiegen, in welcher dann für das Wohl der Menschheit nichts mehr von ihr zu hoffen oder zu fürchten ist. — So sehen wir, wie natürliche Anlage, Sprache und Erziehung bei der italienischen Nazion vereint wirken, um eine Kunst zur Erscheinung zu bringen, welche, wenn sie von ächten Künstlern in dem Grade von Vollkommenheit getrieben wird, den wir bei ei- [103] nigen wenigen gefunden haben, als die höchste Blüthe der sinnlichen Energie, als das glänzendste Fänomen der Geisteskraft anzusehen ist.
Rom, im Mai 1801.
Fernow.
* Ein teutscher Reisender, welcher eine Reise durch Spanien gemacht hat, versichert den Verfasser, daß es auch heut zu Tage in Spanien nicht selten ist, Leute zu sehen, die aus dem Stegereif in Versen sprechen: aber nirgends fand er dieses Talent so wie in Italien zur Kunst ausgebildet. Dort ist’s eine wildwuchernde Pflanze, deren Früchte wahrscheinlich auch nicht sehr schmackhaft sind.
Nachschrift
Das verdient überhaupt noch eine tiefereindringende, Alterthumskunde mit Psychologie im engsten Bund verknüpfende historische Untersuchung, die vielleicht als Beilage zu einer Hauptstelle eines alten Klassikers am schicklichsten erscheinen könnte, da die für die Kritik der ältesten hebräischen und griechischen Schriftdenkmäler so wichtige und neuerlich so lebhaft in Anregung gebrachte Streitfrage über Sänger- und Aödenschulen aufs genauste damit zusammenhängt. Ich würde den Ion des Plato dazu vorschlagen, wo die vier Arten der dort beschriebenen Begeisterung bei weitem noch nicht genug getrennt und geprüft sind. Auch hat die Müllersche Ausgabe der Kritik noch Manches übrig gelassen. Reisebeschreibungen würden mit vielem Nutzen dabei gebraucht werden können. Denn die Sache findet sich auf einer gewissen Stufe der Halbkultur überall auf dem Erdboden. [104] So fand sie Forster auf den Südseeinseln.** Immer bleiben aber die italienischen Improvisatoren die vorzüglichsten. Dann kommen die spanischen, wovon uns Baretti so viel zu erzählen weiß. Unsere ehrlichen Veit Webers und Nürnberger Meistersinger werden sich freilich auch hier nur des hintersten Platzes bescheiden müssen.
Unter den vielen Nachrichten von der italienischen Improvisatorkunst dürften die in diesen Blättern mitgetheilten von Hrn. Fernow in Rom, leicht die gründlichsten und anziehendsten seyn, und die Leser des T. Merkurs werden ihm gewiß auch dafür Dank wissen. Von einem so wohl unterrichteten und seine Beobachtungen so lichtvoll ordnenden Mann müßte eine Geschichte der italienischen Sprache und Literatur sehr befriedigend ausfallen. Ich freue mich daher, aus einem seiner Briefe eine Stelle ausheben zu können, die uns die Erfüllung dieses Wunsches, wenigstens Theilweise, recht bald hoffen läßt. Hier sind seine eigenen Worte:
"Ich hatte während der ersten drei bis vier Jahre meines Aufenthalts in Rom, wo interessantere Ge- [105] genstände, und mein Hauptzweck, das Studium der Kunst, meine ganze Aufmerksamkeit fesselten, der italienischen Sprache kein besonderes Studium gewidmet, sondern mich blos mit dem begnügt, was sich durch Zeit und Umstände von selbst lernte und hinreichte, die klassischen Schriftsteller dieser Nazion zu verstehen und mich den Eingebornen zur Nothdurft verständlich machen zu können. Indessen veränderten sich die Zeitumstände dergestalt, daß Rom in gewisser Rücksicht nicht mehr Rom blieb; der ruhige Fortgang meines ohnehin fast beendigten Kunststudiums wurde gestört, und dieses Studium selbst mir dadurch auf eine Zeitlang verleidet, so daß ich mich nach einer andern Geistesbeschäftigung umsehen musste, um mir den verlängerten Aufenthalt in Italien interessant und nützlich zu machen. Das Studium der italienischen Sprache bekam nun neue Reize für mich, und ich entschloß mich, demselben die übrige für meinen Aufenthalt in Italien bestimmte Zeit zu widmen. Allein kaum hatte ich die ersten Schritte in diesem mir nicht mehr ganz fremden Gebiet gethan, als ich schon das dringende Bedürfniß einer gründlichen, vollständigen, filosofischen Sprachlehre fühlte; denn ich mußte oft acht bis zehn Bücher dieser Art nachschlagen, ehe ich fand, was ich suchte, und nicht selten, wenn ich tiefer forschen wollte, ließen mich alle unbefriedigt. Ich sah bald, daß unter den zahlreichen Grammatikern dieser gebildetsten unter allen neueren [106] Sprachen kein einziger, selbst den umständlichen Buonmattei nicht ausgenommen, seinen Gegenstand filosofisch behandelt hat, und die sonst sehr unvollständige italienische Sprachlehre des verstorbenen Moritz giebt über einige Materien mehr Licht, als alle italienischen Grammatiken zusammen, weil er die Sprache mit einem filosofischen Blick angesehen hat. In Syntax lassen die italienischen Grammatiker den Forschenden völlig im Stiche, weil sie diesen Theil der Sprachlehre gewöhnlich ganz und gar nicht berührt haben. Mir blieb also, bei allen vorhandenen Hülfsmitteln, noch genug eigene Arbeit übrig."
"Nachdem ich mich endlich in Jahresfrist durch dieß Labyrinth einmal ziemlich glücklich hindurch gewunden und eine große Menge selbst gemachter grammatikalischer Studien angehäuft hatte, kam mir der Gedanke, daß es jedem andern, der, wie ich, diese Sprache gründlich studieren möchte, aber nicht, so wie ich, alle Hülfsmittel dazu und das wichtigste unter allen, den Aufenthalt im Lande selbst und den Rath sachverständiger italienischer Gelehrten, zu benutzen Gelegenheit hätte, seine Mühe außerordentlich erleichtern würde, wenn ich im Stande wäre, eine Sprachlehre auszuarbeiten, die jene Eigenschaften, welche ich bei meinem Studium an den vorhandenen Werken dieser Art vorzüglich vermißte, filosofische Gründlichkeit und möglichste Vollständigkeit, in solchem Maaße [107] in sich vereinigte, daß es sich der Mühe verlohnte, die nicht kleine Zahl der schon vorhandenen Sprachlehren mit einer neuen zu vermehren. Ich schritt aufs neue mit allem Eifer zum Werke, begann die zuerst mit vieler Mühe durchlaufene Bahn von neuem, und bin nun nach einer beharrlichen Arbeit von etwa zwei Jahren, die nur selten auf kurze Zeit unterbrochen worden, so weit damit fortgerückt, daß ich seiner nahen Beendigung während dieses Sommers entgegen sehe. Dieses Werk wird, nach dem mir dabei vorgesetzten Zwecke, keine Sprachlehre für Anfänger seyn, sondern vielmehr für die, welche tiefer in den Geist der Sprache einzudringen, und sie sowohl ihrem ganzen Umfange, als ihrem innern Wesen nach, gründlich und genau zu kennen wünschen. Ich zweifle auch, daß beide Zwecke sich in einem und demselben Werke vereinigen lassen."
"Bei der Ausarbeitung meiner Sprachlehre habe ich keines der Hülfsmittel, die mir die Arbeiten meiner Vorgänger darboten, unbenutzt gelassen, um demselben die möglichste Vollständigkeit und Richtigkeit zu geben, und nie hat eine Schwierigkeit mich abgeschreckt, da einzudringen und selbst Bahn zu brechen, wo noch kein Vorgänger einen Pfad geebnet hatte; eben so wenig hat die Furcht, ein zu voluminöses Buch zu liefern, mich abhalten können, so ausführlich zu seyn, als der Gegenstand und die Vollstän- [108] digkeit des Werks erfoderten. Meine Sprachlehre ist daher freilich stärker geworden, als Bücher dieser Art gewöhnlich sind; so z.B. ist der Abschnitt vom Verbe, als dem wichtigsten unter allen Redetheilen, allein stärker als des Moritz ganze Sprachlehre; indessen ist das Ganze doch nicht viel stärker als etwa der erste Theil des Adelungschen Lehrgebäudes der teutschen Sprache. Ich würde es demnach der Bequemlichkeit wegen in zwei Bände von ungefähr gleicher Größe theilen, wovon der erste die Erklärung der Redetheile, der zweite die Wortfügung, die Rechtschreibung und als einen außerwesentlichen, aber für den Teutschen sehr nöthigen Anhang, die Regeln der italienischen Poesie enthalten würde."
So weit Hr. Fernow. Er kannte die Sprachlehren des Hrn. Jagemann nicht, die gewiß bei aller ihrer Kürze manchen bisher noch unerfüllten Wunsch völlig befriedigten. Ihm ist es aber um ausführliche Vollständigkeit zu thun, und da ist dem filosofischen Sprachforscher, wie Hr, Fernow gewiß ist, noch ein weites Feld offen.
B.
** S. G.L.Forsters Bemerkungen auf seinen Reisen um die Welt. S. 403.406.458.
Notes:
- Collected by:
- EW