Johann Kreuser, Homerische Rhapsoden oder Rederiker der Alten

Kreuser surveys poetic improvisation throughout modern Europe, in Arabic cultures and in the ancient world, naming (in an endnote) several German improvisers who have been reviewed in recent periodicals. He considers improvised poetry and music a pleasant entertainment for the masses, a momentary pleasure that cannot measure up to Homer or to the productions of poets and orators when language and culture are in a more mature state.

Performer Name:
Sgricci; Pradel; Wolff; Böhringer; Schönemann; Langenschwarz; Binderei
Performance Venue:
 
Performance Date:
 
Author:
Kreuser, Johann
Date Written:
 
Language:
German
Publication Title:
Homerische Rhapsoden oder Rederiker der Alten
Article Title:
 
Page Numbers:
149-52, 308
Additional Info:
 
Publisher:
M. DuMont-Schauberg
Place of Publication:
Köln
Date Published:
1833

Text:

[149] Zuerst nun fragen wir: gibt es und gab es Steggreifler [150] Dichter des Augenblickes ohne Vorbereitung, gleichviel, was die eigentliche Kunst davon halten mag? Die Antwort fällt bejahend aus; ja, das Steggreifeln scheint sogar einzureißen troz unserer Schriftkunde. Sgricci, wiederhallte es vor einigen Jahren in allen Zeitschriften, und es staunten die Theetische und hatten keine Langeweile mehr. Eugene de Pradel kam 1824 aus Saint Pelagie, und Paris labte sich an dem Dichterbronnen, der leider schnell vertroknet ist. Bei dem Deutschen zog dann Wolf umher, zieht vielleicht noch umher; recht besehen war's aber nur eine Wolfshaut. Zur Abendunterhaltung mögen solche Steggreifler gut sein; aber ein Homeros ist noch nicht zum Vorschein gekommen. Ich könnte noch Mehrere nennen, die, obgleich Deutsche, in italienischen Stanzen, Sonetten, ja, Liedern, versteht sich, gereimt, zu steggreifeln vermögen, aber wenig Wesens daraus machen, noch im Vaterlande Lärm schlagen, weil sie die Kunst nicht zum Handwerke entwürdigen und das Handwerk (eine allerdings erfreuliche Fertigkeit) nicht zur Kunst verkleistern wollen […] Auch bei den Arabern in Spanien finden wir Steggreifler, als ihre Sprache seit Jahrhunderten ausgebildet war, und zwar, wie die unsere, schriftlich ausgebildet. Galib ben Omeya, genannt Abulast, steggreifelte auf den Alfazar, was wir noch besizen; allein er war auch sonst ein gelehrter Dichter und berühmter Schriftsteller. Ja, es gab sogar zu den Zeiten Alamanzor’s in dem dichterreichen Spanien eigene Wettkämpfe im Steggreifeln, wie Gehuar el Tegebi und Abuola Said ben Alhafan beweisen. Das Vaterland der Mauren, dessen Sprach- und Schriftalter kein neueres Volk erreichen mag, und das seit länger vielleicht als einem Jahrtausend sein kleines Gasel und die längere Kassidet besizt, kennt auch seine Steggreifler; Sadi, Hafis, Motenebbi steggreifelten; aber wie Hammer bemerkt, solche Gelegenheitsdichtungen aus dem Steggreife sind selbst bei diesen großen Dichtern schlecht, ja, können nicht anders sein, und erfreuen nur durch die passenden Beziehungen der Gegenwart, des Augenblickes. Ich möchte behaupten, aus der Anlage, zu steggreifeln, entsteht alle Volksdichtung, die aber nur von kurzer Blüte ist, mit den Anlässen bald wieder verklingt, weshalb wir auch keine Volkslieder besizen, die einige Jahrhunderte alt sind, wie Wilhelm Mül- [151] ler in der Vorrede zu den neugriechischen Volksliedern auch hübsch auseinandersezt. Haben sie aber ein bedeutendes Alter, so sind sie nicht anders, als schriftlich auf die Nachwelt gekommen, und ein Lied von wenigen Zeilen, geschweige ein Homeros, im Munde des Volkes auch nur ein einziges Jahrhundert fortgepflanzt, ist etwas, was noch nicht gefunden ward. Ich kenne Volkslieder, zu meiner Zeit entstanden, und ihre ursprüngliche Gestalt ist kaum wieder zu erkennen; denn wenn das Volk singen will, kümmert es sich wenig um Text und Alles, sondern singt, wie und was es weiß. Fehlt was, wird’s ausgelassen, oder man flikt aus dem Steggreife was hinzu. So macht es der gepriesene Volksgesang, und die Hellenen waren Menschen wie wir, und machten’s nicht anders. Die Esthen haben noch heute eine große Vorliebe für Gesang. Der Steggreifdichter singt eine Zeile vor, und gleich wiederholt sie die ganze Versammlung, und Lieder entstehen und verklingen im Augenblicke. Auch der Lette bis zum gemeinsten Manne wird Dichter, wenn er froh ist, und spricht oder weissagt in Versen; aber alle diese Dichtungen, nur in der Lust und für die Lust des Augenblickes geschaffen, verklingen mit ihm, begehren auch nichts weiter, und wenn sie eine Menge überflüssiger Wörter und Lückenbüßer haben, so thut das wenig; denn sie wollen keine Bücher, aber Freude machen. Nicht anders, als für die Gegenwart berechnet, sind noch die jezigen Steggreifler und Volksdichter der durch Talvy, Gerhard und Andere so bekannt gewordenen Serben, und wenn Neuere ihre herumziehende Gußlesänger (Gußle ist nämlich zitherartig, mit einer einzigen, aus mehreren Pferdehaaren gezogenen Saite, der alten bogenförmigen Phorminx ähnlicher, als man denkt,) mit dem mißverstandenen Ramen Rhapsoden belegen, so ist das nur die alte Verwechslung; kann ja der Serbe auch schreiben, lebt in einer schreibkundigen Zeit, und das Briefschreiben auf den Knieen wird häufig genug in seinen ältesten Liedern erwähnt. Allein wie sind diese steggreifelnden Dichter? Selten wie Philip Sliepaz, der blinde Schlachtensänger, der vielleicht noch jezt lebt, und einst den Tschupitsch Stojan an seinem eignen Tische mit dem Feierliede seines Sieges erfreute, und dafür mit einem Reitpferde belohnt ward. Allein dieser so genannte Steggreifler bedachte seine Lieder nicht nur im Voraus, sondern das größte Gedicht dieses sterblichen Homeros, nämlich der Aufstand der Serben, beträgt nur sechshundert Zeilen: welch ein Vergleich mit dem hellenischen Homeros! Ueberhaupt sind Ger- [152] hard’s Worte beachtungs werth, daß so wie in der Wallachei sich die Zigeuner meist mit der Musik beschäftigen, so auch bei den Serben die wenigsten Gußlesänger Dichter sind, sondern sie singen entweder alte (natürlich niedergeschriebene) Lieder, oder nehman zwanzig Verse aus diesem, zwanzig aus einem andern Liede, verbinden sie schlecht, und das heißt bei ihnen ein neues Lied. Gußlesänger aber, wie Hyazinth Maglanowitsch, die zugleich selbstständige Dichter sind, werden höchst selten gefunden. Dieselbe Erscheinung kann man bei den Barden der schottischen Hochlande, den neugriechischen Klephten-Barden und überall gewahren, wo die Dichtung heimisch ist. Und wo ist sie es nicht?

Aber hatten auch die Alten ihre Steggreifler? Ebenfals. Steggreif-Dichtungen waren ihre dionysischen Chöre, wie wir früher gezeigt, Fopp und Spott auf die Gegenwart. Steggreifler was Antipatros aus Sidon, der solche Fertigkeit des Wortes sich erworben, daß er es zwang, jedem Maße such zu fügen. Steggreifler war der berühmte Dichter Archias; Steggreifler waren endlich, wenn auch nicht in Versen, das ganze Heer der Sophisten von Gorgias und dem Tausendkünstler Hippias bis auf Philostratos; ja, sie Sophistenkunst ist nur die Kunst, aus dem Steggreife zu reden über alles Beliebige, und so sehen wir, daß die Steggreifkunst, statt die Schrift vertreten zu können, vielmehr selber in Zeiten fällt, wo das Schriftwesen überhaupt ausgebildet ist. Und in der That, wie wäre es auch anders möglich? Oder was ist die Steggreifkunst? Sie ist die stets bereite Fertigkeit des Wortes in und ausser dem Masse, jedesmal dem vorliegenden Falle mehr oder minder anpassend, dem Pöbel immer gefallend, den Weisen durch die Überraschung, wann das Wort passt, nicht selten erfreuend, für das Leben in entscheidenden Augenblicken und öffentlichen Verfassungen wichtig, für die Kunst aber im eigentlichen Sinne immer unnüz. Man schreibe die besten Steggreifeleien auf und die am meisten gefallen haben, und man wird finden, dass der flüchtige Reiz des überraschenden Vortrages bald verschwindet, wenn man festhalten kann, was eben nur durch das flüchtige Strömen erfreut. Aber wann gelangt man zu dieser Fähigkeit der Steggreifelei, wenn anders Anlage da ist? Nur dann, wann die Entwickelung der Sprache eine feste Gestalt angenommen hat, dann steht dem Dichter und Redner ein gemeinsamer Sprachschaz offen.

 

[…]

[308] Über einen Steggreifler Daniel Schoenemann s. Wegweiser der Abendzeitung 1829, Nr. 161; ebendaselbst Nr. 56 u. 1831, Nr. 139 über die Blüthenkränze des deutschen Improvisators A. Böhringer, Magdeburg 1829, und Langerschwarz. — Auch von einem Bin- [309] derei sprechen die Zeitungen (Kölnischer Korrespondent 1829, Nr. 179), und wer weiss, ob die Zeit nicht nahe ist, dass wir die Steggreifler in der That vom Steg greifen?

Notes:

 
Collected by:
AE