O. L. B. Wolff, “Improvisation, Improvisatoren, Improvisiren”

In an encyclopedia entry on improvisers and improvisation, Wolff provides a discussion of the relation between the development of the art of improvisation and the geography and spirit of each nation. He also provides a brief history of improvisation and mentions some of the most important contemporary improvisers.

Performer Name:
Rosa Taddei; Pistrucci; Sgricci; Bindocci
Performance Venue:
 
Performance Date:
 
Author:
Wolff, O. L. B.
Date Written:
 
Language:
German
Publication Title:
Allgemeine Encyklopaedie der Wissenschaften und Kuenste
Article Title:
Improvisation, Improvisatoren, Improvisiren
Page Numbers:
Section 2, part 16: 366-68
Additional Info:
Ed. J. C. Ersch and J. G. Gruber
Publisher:
Brockhaus
Place of Publication:
Leipzig
Date Published:
1839

Text:

[366] Improvisation, Improvisatoren, Improvisiren. Der italienische Ursprung dieses Wortes (von improviso, all'improviso, unverhergesehen, unerwartet) beweist, dass Italien das eigentliche Vaterland der mit diesem Namen belegten dichterischen Gabe sei. Man versteht unter Improvisiren die Ausuebung jener eigenthuemlichen geistigen Faehigkeit, jeden aufgegebenen Gegenstand augenblicklich und ohne Vorbereitung in poetischer Form zu behandeln und vorzutragen. Soll dieselbe bis zu der Hoehe einer Kunst ausgebildet und geuebt werden, so verlangt sie neben dem angeborenen Talent rascher geistiger Productivitaet, die vollkommenste, stets dienstbare Herrschaft ueber Sprache und Form, reiche Belesenheit, Phantasie, Geschmack, Scharfsinn und ein zuverlaessiges Gedaechtniss; sobald dem Improvisator nur eine dieser Eigenschaften, wenngleich in geringerem Grade, fehlt, so wird er entweder nie mit bewusster Sicherheit sein Talent ausueben, oder nur selten mit vollster Kraft durch seine Improvisation eine genuegende, allseitige Wirkung auf den Zuhoerer hervorbringen koennen, so guenstig auch die Gewalt des Augenblicks ihn unterstuetzen [367] moege. Besitzt er dagegen alle diese Eigenschaften, so wird er, vom Moment hingerissen, Herrliches leisten und die Seelen seiner Hoerer maechtig ergreifen und bewegen, falls es diesen nicht an Gefuehl fehlt, und sie durch das wahrhaft Poetische der Improvisation ergriffen, die kleinen Uncorrectheiten, welche von der augenblicklichen Production unabwendbar sind, unbeachtet lassen. Daher wird aber auch diese Gabe nur bei einer Nation, in deren Charakter die reine, natuerliche Empfindung vorherrscht, wirklich gedeihen koennen, wogegen sie bei allen Voelkern, bei denen die Reflexion die Oberhand hat, nur einen unguenstigen Boden findet. Es muss nothwendig eine Wechselwirkung stattfinden, denn dei Begeisterung, die von der echten Improvisation unzertrennlich ist, erkaltet, wenn sie sich ohnmaechtig fuehlt. Die suedlichen Laender sind daher die eigentliche Heimath dieses Talentes; wo das Blut rascher durch die Adern wallt, wo der Gedanke unmittelbar in die That ueberspringt, wo das freie unbeschraenkte reichste Naturleben von der Poesie getragen wird und dieselbe wieder traegt, wo die Leidenschaft gluthvoll vorherrscht, da lebt auch die Improvisation in nie verwelkender Jugend, und schmueckt sich mit immer frischem, neu aufspriessendem Lorbeer; wo sie hingegen im Norden sich zeigt, da ist sie stets eine ungewoehnliche Erscheinung, das Maedchen aus der Fremde, das sich in einen kalten, unwirthlichen Himmelsstrich verirrte, und wird, selbst voruebergehend, wegen ihrer Seltenheit nur voruebergehende Bewunderung, nie aber mitempfindende Liebe sich zu erwerben vermoegen. Man hat behauptet, die nordischen Sprachen, und besonders die teutsche, gestatteten so rasche, freie Behandlung nicht; das ist aber nicht wahr, jede Sprache kann bis zum Hoechsten ausgebildet werden, denn der menschliche Geist kann es, und die Sprache ist nur die aeussere Form, in der er zur Erscheinung kommt; aber der nordische Charakter ist dieser freiesten und momentansten Aeusserung des Gefuehls und der Anschauung entgegen, und einzig darin liegt der Grund, weshalb sie nie eine wirklich guenstige Aufnahme im Norden gefunden hat.

Die Improvisation mag sehr alt sein; ihre Ausbildung als Kunst gehoert jedoch erst den neuern Zeiten an. Der erste Schriftsteller, der uns von einem abendlaendischen improvisirenden Dichter Kunde gibt (ob im Orient diese Erscheinung nicht viel frueher schon vorgekommen sei, muss ich, aus Mangel an genauer Kenntniss, dahingestellt sein lassen, auch ist der augenblicklich freie poetische Vortrag wol zu unterscheiden von der eigentlichen Improvisation, die ein von Andern vorgeschribenes Thema ohne Vorbereitung in moeglichst vollendeter Form so behandelt)*, ist Cicero, der von dem Dichter Archias erzaehlt, dass er nicht allein aus dem Stegreife Tagesbegebenheiten, ohne ein Wort niedergeschrieben zu haben, behandelt, sondern denselben Gegenstand, wenn er dazu von Neuem aufgefodert worden, mit andern Worten wieder vorgetragen habe. Dies mag damals jedoch eine ungewoehnliche Erscheinung gewesen sein, sonst wuerde Cicero in seiner Verteidigungsrede dieses Mannes, sie nicht so nachdruecklich hervorgehoben, und diese Faehigkeit als unglaublich dargestellt haben; auch findet sich nirgends eine aehnliche Erwaehnung, denn Horazens Bezeichnung eines Poeten, der, auf einem Fusse stehend, tausend Verse macht, hebt nur die Leichtigkeit desselben im Versmachen im Allgemeinen hervor. Ueberhapt sind keine genauen Nachrichten ueber die entschiedene Ausuebung dieser Gabe vor dem 15. Jahrh. christlicher Zeitrechnung vorhanden, und wir koennen nur die Vermuthung aufstellen, dass sie im Mittelalter wahrscheinlich zuerst mit Liebe und Absicht in der Provence gepflegt und von dort erst nach Sicilien, dann nach dem uebrigen Italien gekommen sei. Dies darf jedoch nur eine Vermuthung bleiben, um so mehr, als sich bei den Troubadours nirgends etwas auch nur im Entferntesten Beweisendes darueber findet, und ueberall, wenn von poetischen Aufgaben oder von Saengerwettstreit die Rede ist, auch bemerkt wird, es sei ihnen vorher eine Frist dazu gesetzt worden; auf der andern Seite laesst sich aber wol denken, dass unter so guenstigen Verhaeltnissen und zu einer Zeit, wo die Liebe zur Poesie Modesache war, sich auch solche Kraefte, wie sie die Improvisation fodert, gefunden und ausgebildet haben muessen.

[The article continues with the history of improvisation at the court of Leo X, mentioning Perfetti, Metastasio, Corilla, Fantastici, Banettini, Gianni.]

[368] […] Unter den namhaftesten Improvisatoren unserer Tage sind als die vorzueglichsten zu betrachten: Rosa Taddei, Pistrucci (in London lebend), Sgricci, der meisterhaft ganze Tragoedien in versi sciolti aus dem Stegreife dichtete, was vor ihm noch Keiner gewagt, und Bindocci, welcher kuerzlich auch Teutschland besuchte und bei den Kunstverstaendigen grossen Beifall fand. In Spanien und Portugal ist die Gabe der Improvisation ebenfalls heimisch, und wird vom Volke mit grosser Liebe gepflegt, jedoch nicht mit vorwaltender hoeherer Bildung als wirkliche Kunst geuebt.

[The article continues with improvvisatori elsewhere in Europe: Pradel, de Clercq, Wolff, Langenschwarz, Boehringer, Volkert.]

* Die Gabe der Improvisation im erstern Sinne findet sich schon bei den Hebraeischen Propheten, und wird bereits auch an den arabischen Dichtern aus der Zeit vor Muhammed geruehmt. (R.)

Notes:

 
Collected by:
AE