- Performer Name:
- Performance Venue:
- Performance Date:
- Author:
- Jean Paul [Richter, Johann Paul Friedrich]
- Date Written:
- Language:
- German
- Publication Title:
- Flegeljahre
- Article Title:
- Page Numbers:
- 2:888-891
- Additional Info:
- Qtd from Werke, ed. Gustav Lohmann
- Publisher:
- Carl Hanser
- Place of Publication:
- Munich
- Date Published:
- 1959
Text:
[888] Er setzte sich mit weit mehr Welt und Leichtigkeit an das Eßtäfelchen, als er selber gedacht hatte. Der General, der ein unaufhörliches Sprechen und Unterhalten begehrte, sann Walten an, etwas zu erzählen, etwas Aufgewecktes. Mit etwas Rührendem wär’ er leichter bei der Hand gewesen; so aber sagt’ er: er wolle nachsinnen. Es fiel ihm nichts bei. Schwerer ist wohl nichts als das Improvisieren der Erinnerung. Viel leichter improvisiert der Scharf- und Tiefsinn, die Phantasie als die Erinnerung, zumal wenn auf allen Gehirn-Hügeln die freudigsten Feuer brennen. Dreitausend fatale Bonmots hatte der Notar allemal schon gelesen gehabt, sobald er sie von einem anderen erzählen hörte; aber er selber kam nie zuerst darauf, und er schämte sich nachher vor dem Korreferenten. Sehr hätt’ er das Schämen nicht nötig, da solche Referendarien des fremden Witzes und solche Postschiffe der Gesellschaft meist platte Gehirne tragen, auf deren Tenne nie die Blumen wachsen, die sie da aufspeichern und auftrocknen.
"Ich sinne noch nach", versetzte Walt, geängstigt, einem Blicke Zablockis, und flehte Gott um einigen Spaß an; denn noch sah er, daß er eigentlich nur über das Sinnen sinne und dessen Wichtigkeit. Die Tochter reichte dem Vater die Flasche, die nur er — seine Briefe aber sie — aufsiegelte. "Trinken Sie dies Gewächs für 48er oder 83er?" sagte der General, als man Walten das Glas bot. Er trank mit der Seele auf der Zunge und suchte forschend an die Decke zu blicken. "Er mag wohl", versetzt’ er, "um die Hälfte älter sein als mein voriger Wein, den ich eher für jungen 48er halte; — ja (setzt’ er fest darzu und blickte ins Glas), er ist gewiß herrliche 83 Jahre alt." Zablocki lächelte, weil er eine Anekdote, statt zu hören, erlebte, die er schön weiter geben konnte.
Der General wollt’ ihn aus dem stillen innerlichen Schnappen nach Bonmots herausfragen durch die Rede: wie er nach Rosenhof komme? Walt wußte keine rechte ostensible Ursachen — wiewohl diese ihm gegenüber saß im weißen Hute — anzugeben, aus- [889] genommen Natur und Reiselust. Da aber diese keine Geschäfte waren: so begriff ihn Zablocki nicht, sondern glaubte, er halte hinter irgendeinem Berge, und wollte durchaus hinter ihn kommen. Walt schüttelte von seinem poetischen Schwingen die köstlichen Berge und Täler und Bäume auf das Tischtuch, die er auf dem seligen Wege mehr aufgeladen als durchflogen hatte. Zablocki sagte nach Walts langer Ausspende von Bildern: "Beim Teufel! nimm, oder ich freß nicht!" Wina — denn diese hatt’ er in jenem Liebes-Zorn angeredet, den weniger die Väter gegen ihre Töchter als die Männer gegen ihre Weiber haben — nahm erschrokken ein großes Stück vom Schnepfen, dem Schoßkinde des väterlichen Gaumens, und reichte, höflicher als Zablocki, den Teller dem betretenen Notar hinüber, um ein paar hundert Verlegenheiten zu ersparen. Walt konnte auf keine Weise fassen, wie bei so mündlicher lebendiger Darstellung der lebendigen, beinahe mübdlichen Natur, als seine war, eine Schnepfe mit allem seinem Album graecum noch einige Sensation zu machen imstande sei. Poetische Naturen wie Walt sind in Nordländern — denn ein Hof oder die große Welt ist der geborne Norden des Geistes, sowie der geborne Gleicher des Körpers — nichts weiter als Elefantenzähne in Siberien, die unbegreiflich an einem Orte abgeworfen worden, wo der Elefant erfriert.
Mit einschmeichelnder Stimme fragt’ ihn wieder Zablocki, ob ihm noch nichts eingefallen; und Wina sah ihn unter dem Abendrote des rottaftenen Hutfutters so lieblich augen-nickend und bittend an, daß er sehr gelitten hätte, wenn ihm nicht die drei Bonmots, auf die er sich gewöhnlich besann, endlich zugekommen wären, und daß er wieder nahe daran war, ein gelieferter Mann zu werden und alles zu vergessen, weil das kindlich bitthafte Auge zu viel Platz — nämlich allen — in seiner Phantasie, Memorie und Seele wegnahm.
"Ein hathöriger Minister", fing er en, "hörte an einer fürstlichen Tafel" …. "Wie heißt er und wo?" fragte Zablocki. Das wußt’ er nicht. Allein da der Notar den wenigen Historien, die ihm zufielen, keinen Boden, Geburtstag oder Geburtsschein zuzuwenden wußte &vorfabeln wollt’ er nie —: so braucht es Sozie- [889] täten nicht erst bewiesen zu werden, wie farbenlos er als Historienmaler auftrat, und wie sehr eigentlich als ein luftiger historischer Improvisatore. "Ein harthöriger Minister hörte an einer fürstlichen Tafel die Fürstin eine komische Anekdote erzählen und lacht darüber mit dem ganzen Zirkel unbeschreiblich mit, ob er gleich kein Wort davon vernommen. Jetzt versprach er, eine ebenso komische zu erzählen. Da trug er, zum allgemeinen Erstaunen, die eben erzählte, die eben erzählte wieder als eine neue vor."
Der General glaubte, so schnapp’ es nicht ab; da er aber hörte, es sei aus, so sagt’ er spät: "Deliziös!", lachte indes erst zwei Minuten später hell auf, weil er gerade soviel brauchte, um sich heimlich die Anekdote noch einmal, aber ausführlicher vorzutragen. Der Mensch will nicht, daß man ihm die spitze, blanke Pointe zu hitzig auf der Schwelle auf das Zwerchfell setze. Eine gemeine Anekdote ergreift ihn mit ihrem Ausgang froh, sobald er nur vorher durch viel Langeweile dahin getrieben wurde. Geschichten wollen Länge, Meinungen Kürze. Walt trieb die zweite anonyme Geschichte von einem Holländer auf und vor, welcher gern ein Landhaus, wegen der herrlichen Aussicht auf die See, besessen hätte, wie alle Welt um ihn, allein nicht das Geld dazu hatte. Der Mann aber liebte Aussichten dermaßen, daß er alle Schwierigkeiten dadurch zu besiegen suchte, daß er sich auf einem Hügel, den er gegen die See hatte, eine kurze Wandmauer und darin ein Fenster brechen ließ, in welches er sich nur zu legen brauchte, um die offne See zu genießen und vor sich zu haben, so gut als irgendein Nachbar in seinem Gartenhaus.
Sogar Wina lächelte glänzend under dem roten Taft-Schatten hervor. Mit noch mehr Anmut als bisher teilte Walt die dritte Anekdote mit.
Ein Frühprediger, dessen Kehlkopf nehr zur Kanzel-Prosa als zur Altar-Poesie gestimmt war, rückte zu einer Stelle hinauf, die ihn zwang, vor dem Altare das "Gott in der Höhe sie Ehr’" zu singen. Er nahm viele Singstunden; endlich nach vierzehn Singtagen schmeichelte er sich, den Vers in der Gewalt und Kehle zu haben. Die halbe Stadt ging früher in die Kirche, um der Anstrengung zuzuhören. Ganz mutig trat er aus der Sakristei (denn [891] er hatte sich darin vom Singmeister noch einmal leise überhören lassen) und stieg gefaßt auf den Altar. Alle Erzähler der Anekdote stimmen überein, daß er trefflich angehoben und sich anständig genug in den Choral hineingesungen hatte: als zu seinem Ruin ein blasender Postillion draußen vor der Kirche vorbeiritt und mit dem Posthorn ins Kirchenlied einfiel; — das Horn hob den Prediger aus dem alten Sing-Geleise in ein neues hinein, und er sah sich gezwungen, das ernste Lied mitten vor dem Altare nach dem vorbeiretenden Trompetenstückchen auf die lustigste Weise hinauszusingen.
Der General lobte sehr den Notar und ging heiter aus dem Zimmer; aber er kam nicht wieder.
Notes:
Flegeljahre originally published 1805
- Collected by:
- AE